In aller Stille zur ewigen Ruhe

Bericht zur Auflösung der Rdf-Truppe nach der Jahrthausendwende:
Quelle: Velojournal, Ausgabe November/Dezember 2003

By Bruno Schmucki

Die Schweizer Armee soll zu einer schlagkräftigen Hightech-Truppe umfunktioniert werden. «Folkloristische» Elemente wie die Radfahrertruppen haben darin keinen Platz mehr. Im Frühling dieses Jahres hiess es für über tausend Velosoldaten zum letzten Mal «Abtreten!».

«Stell dir vor, es ist Krieg, und alle kommen mit dem Velo». Die leichte Abänderung des populären Brecht-Zitats macht drastisch klar, dass den uniformierten und bewaffneten Velofahrern jene Ernsthaftigkeit fehlt, auf der jede kriegerische Abschreckung basiert. Selbst die militärische Sprachregelung, die den Begriff «Velofahrer» konsequent ächtet und stets durch «Radfahrer» ersetzt, kann den gewünschten martialischen Eindruck nicht herstellen. Zu diesem Schluss scheint auch die Schweizer Regierung gekommen zu sein. So verkündete Verteidigungsminister Samuel Schmid am 27. Februar 2001 offiziell, dass die über 110-jährige Truppengattung im Rahmen der Umstrukturierungen zur Armee XXI kurzerhand abgeschafft werde. Die Betroffenen selber – die passionierten Radfahrersoldaten – nahmen den Entscheid eher gelassen entgegen. Der erwartete grosse Aufschrei blieb aus.

Martin Gubler beispielsweise, Kommandant des letzten Radfahrerregiments der Schweiz, erklärte im vergangenen Juni gegenüber der «SonntagsZeitung»: «Wir Radfahrer haben den Entscheid, der schon vor zwei Jahren fiel, mit sportlicher Haltung akzeptiert.» Da und dort beklagen sich zwar noch Einzelne in den Gästebüchern der einschlägigen Internetseiten über das schnelle Ende der mobilen Truppe. So der St. Galler Chris Neff auf der Homepage des Radfahrerregiments 6: «Meines Erachtens ist es eine Schande, die Radfahrer abzuschaffen. In Kriegsfällen würden wir sowieso nicht mit dem Rad zum effektiven Einsatz gelangen. Doch die Ausbildung als Radfahrer garantiert eher, dass die Soldaten ein körperlich höheres Leistungsniveau erreichen als Fusssoldaten. Ich bin echt enttäuscht, dass das stolze Aushängeschild der Schweizer Armee ins Alteisen geworfen wird.»

Doch in einem Land, wo 1972 über 400’000 BürgerInnen eine Petition für den Erhalt der Armeekavallerie unterschrieben haben, wo 1995 die Freunde der Armeebrieftauben – zwar erfolglos – eine «Volksinitiative für eine Schweizer Armee mit Tieren» lancierten und wo die Bauernlobby mit entsprechendem Druck dafür sorgte, dass es auch in der modernen Armee XXI Militärpferde-Truppen (den so genannten «Train») gibt, ist dieser Widerstand schwach. Fast ein bisschen lendenlahm für eine so sportliche Truppe.

Stille Leidensfähigkeit

Das grösste Potenzial der Radfahrertruppen scheint ohnehin deren stille Leidensfähigkeit zu sein. Denn der Dienst als Radfahrersoldat war verdammt hart. Bis in die neunziger Jahre hatte das Schweizer Militärvelo – das so genannte «Ordonnanzfahrrad 05» aus dem Jahre 1905 – keine Übersetzung und nur eine Rücktrittbremse hinten. Selbst nachdem vor zehn Jahren ein neues Velo mit sieben Gängen abgegeben wurde, waren Steigungen mit dem 24 Kilo schweren Vehikel und Gepäck von 15 Kilo eine Tortur.

Aber ein Radfahrersoldat kannte keine Müdigkeit. Durchhalten war Ehrensache. Radfahrerkommandant Gubler in der «SonntagsZeitung» zum Thema Schmerzen am Allerwertesten: «Jeder schwört auf eigene Mittelchen und Sälbeli. Viele tragen unter der Uniform gepolsterte Rennhosen. Spezielle Sättel sind nicht erlaubt. Das Hinterteil hat sich durch Training dem Sattel anzupassen.»

Der gestandene Radfahrer-Soldat und Berner IG- Velo-Sekretär Daniel Bachofner trauert seiner Fitness nach: «Ich war körperlich nie so fit wie nach der Rekrutenschule. Die haben mit uns ein eigentliches Trainingsprogramm veranstaltet.» Eine Bekannte erzählte mir allerdings unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass ihr Mann jeweils mit einem spitzen Nagel in der Brusttasche in den militärischen Wiederholungskurs eingerückt sei. Damit habe er sich und seinen Kameraden während langen Fahrten immer wieder eine willkommene Pause verschafft, weil sie einen defekten Veloschlauch flicken mussten …

Die Schweizer Armee kannte seit 1891 velofahrende Soldaten. Französische und italienische Generäle hatten bereits ein paar Jahre zuvor den militärischen Nutzen des flinken und lautlosen Zweirads für Meldefahrten entdeckt. Die neue Truppengattung stiess allerdings anfangs auf Skepsis und Ablehnung, vor allem bei der hochnäsigen Kavallerie. Und im Geschäftsbericht des Eidgenössischen Militärdepartements von 1895 findet sich die folgende Passage: «Die Radfahrer zeigten sich zum Teil als zu wenig discipliniert und in der Ausübung ihres Dienstes nicht zuverlässig genug.» Und als erklärender Zusatz: «Dank der Schnelligkeit ihrer Stahlrosse waren unsere Radfahrer meist sehr rasch den Blicken ihrer Obersten entschwunden und hatten sich in den Wirtshäusern eingenistet, aus denen sie nicht so leicht wieder herauszubringen waren.»

Ersatz für die teuren Pferde

Ein weiteres Problem war die Uniformierung der Radler. Denn statt robuster Wollstoffe war leichtere und bequeme Kleidung gefragt. Als Bewaffnung musste zudem eine Pistole genügen. Die Hauptaufgabe der Truppe bestand darin, Verbindungen zwischen einzelnen Kommandostellen zu garantieren. Im Jahr 1910 verfügte der Bundesrat in einer Verordnung, dass dem Fahrrad innerhalb der Armee noch mehr Beachtung geschenkt werde: «Auf ebenen Strecken und bergab gewährt es für die Bewegung Vorteile in Bezug auf Leistung und Billigkeit, die durch kein anderes Beförderungsmittel zu erreichen sind.» Dank dem Fahrrad sollte zudem die Zahl der in Unterhalt und Pflege ungleich teureren Kavalleriepferde möglichst niedrig gehalten werden. Zur Generalmobilmachung beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs (August 1914) rückten dann die 14 Radfahrerkompanien bereits als «kämpfende» Truppe ein. Die Radfahrersoldaten wurden wie die Füsiliere mit einem langen Karabinergewehr ausgerüstet. Allerdings wurde die Kampfstärke der Radfahrer empfindlich durch eine ganz heimtückische Materialknappheit während der beiden grossen Kriege geschwächt: den Mangel an Gummi für Pneus und Schläuche. So mussten die Truppen oft statt mit dem Velo zu Fuss ins Feld geschickt werden, um die raren Gummi-Ressourcen zu schonen.

Höhepunkt und Niedergang

Der Bestand der Radfahrertruppen wuchs in den folgenden Jahren immer stärker an. Um 1925 zählte die Schweizer Armee 6315 Radfahrersoldaten in 26 Kompanien. Ab 1926 wurden die Rekruten systematisch auf dem «Radfahrer-Waffenplatz» in der Velostadt Winterthur ausgebildet. Vor dem Zweiten Weltkrieg betrug der Sollbestand dann 9000 Mann. Die zunehmende Mechanisierung der Armee führte allerdings dazu, dass die Radfahrertruppen mit Motorradfahrern verstärkt wurden, die auf ihren Gefährten die schweren Maschinengewehre mitführten.

Nach 1945 wird die Zahl der Radfahrersoldaten angesichts der Motorisierung der Einheiten immer weiter reduziert. Die Truppengattung übersteht trotzdem noch verschiedene Armeereformen. International sind die velofahrenden Soldaten der Schweizer Armee schon längst zum militärischen Kuriosum geworden, was die hiesigen Militärs allerdings lange mit Stolz erfüllt hat. «Es ist eine typisch schweizerische Truppe, denn aus fast allen andern Armeen sind die Radfahrer wieder verschwunden. Das ist ein Grund mehr, ihr 100-jähriges Bestehen zu feiern», stellt der Waffenchef der mechanisierten und leichten Truppen, Divisionär Keller, in einem Vorwort zu einer Jubiläumspublikation fest.

Jetzt sind die letzten Radfahrersoldaten doch abgetreten, haben noch einmal in Achtungsstellung die geschundenen Arschbacken zusammengekniffen und sind radelnd in Viererkolonnen an militärischer Prominenz vorbeidefiliert. Die Truppengattung hat das 21. Jahrhundert nicht überlebt. So schlimm findet das eigentlich niemand. n


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